Winterblues und Klassenkälte

Der Schnee war längst geschmolzen und nur ein paar graubraune Häufchen lagen noch am Straßenrand. Die Weihnachtsferien waren zu Ende und ich fühlte mich so gar nicht bereit, wieder in die Schule zu gehen. Eigentlich war das immer so: Ferien waren zu kurz, die freie Zeit zu schön, aber dieses Mal war es anders.

„Hast du heute Nacht überhaupt geschlafen?“, ertönte Sonjas Stimme und riss mich dadurch aus meinen Gedanken. Kopfschüttelnd sah ich auf und blickte in zwei forschende Gesichter. Vor mir standen Marlene und Sonja, meine zwei besten Freundinnen.

„Nicht wirklich“, murmelte ich und zog schließlich den Reißverschluss meiner warmen Jacke hoch. „Ich hab einfach keine Lust auf …“

Ich stoppte mitten im Satz. Es war unnötig, ihn zu beenden. Beide wussten auch so, worauf ich hinaus wollte.

„Jessica“, sagte Sonja tonlos, als wäre allein ihr Name schon genug, um uns die Stimmung zu verderben.

„Jessica”, wiederholte auch Marlene leise hinter mir. Ihre Stimme klang bedrückt, fast schon resigniert.

Sonja verdrehte die Augen, zog ihre Mütze tiefer ins Gesicht und wartete, bis ich endlich weiterlief. Gemeinsam liefen wir die letzten Meter zur Schule, die Stille zwischen uns schien greifbar.

„Ich weiß nicht, wie ihr das macht“, sagte ich schließlich, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander hergelaufen waren. „Ich meine, ich habe mal gar keine Lust, sie überhaupt zu sehen. Und ihr … ihr müsst doch genauso genervt sein wie ich.“

Sonja schnaubte und steckte die Hände tiefer in ihre Taschen. „Genervt? Das ist noch untertrieben. Manchmal wünschte ich, ich könnte einfach den ganzen Tag im Bett bleiben. Ehrlich gesagt frage ich mich, wie lange ich ihre dämlichen Sprüche noch ertragen kann, ohne auszurasten.“

Marlene warf uns einen vorsichtigen Blick zu und ihre Schultern waren ein wenig nach vorne gesunken. „Manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt merkt, wie sehr sie uns verletzt. Ich meine … wer hat so viel Energie, um andere runterzumachen?“

Ich schwieg. Ich wusste, dass Jessica sich sehr wohl bewusst war, was sie tat. Sie genoss es, mich bloßzustellen, über mich zu lachen und mich wie den letzten Dreck zu behandeln.

„Es wird wieder genauso schlimm wie vor den Ferien“, flüsterte ich schließlich, meine Stimme kaum hörbar.

Sonja blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir um. „Nein, wird es nicht.“ Ihr Blick war so entschlossen, dass ich beinahe selbst daran glaubte. „Wir haben uns, Jasi. Egal, was Jessica sagt oder tut, sie wird uns nicht auseinanderbringen. Klar?“

Ich biss mir auf die Unterlippe und nickte misstrauisch, auch wenn ich mir nicht sicher war, ob sie recht hatte. Es fühlte sich nicht so an, als könnten wir gegen Jessica bestehen. Nicht, solange sie alles tat, um mich wie ein Kindergartenkind dastehen zu lassen.

„Du bist nicht allein“, sagte Marlene leise und legte eine Hand auf meinen Arm. Ihre braunen Augen sahen mich so ernst an, dass mir ein Kloß im Hals stecken blieb. „Wir stehen das zusammen durch, okay? Egal, wie fies sie ist. Du hast uns.“

Ich zwang mich zu einem schwachen Lächeln und murmelte: „Danke.“

Unsere Schritte wurden langsamer, als wir in die Nähe der Schule kamen. Das Gebäude ragte wie ein riesiger grauer Klotz vor uns auf. Und da war sie – Jessica. Sie stand mit ihren Anhängern auf dem Schulhof, lachte laut und sah aus, als wäre sie der Mittelpunkt der Welt.

„Kopf hoch“, flüsterte Sonja, während sie meinen Arm leicht drückte.

Ich spürte, wie meine Hände in den Taschen zitterten. Doch ich wusste, dass sie recht hatte. Ich musste es zumindest heute versuchen. Deshalb hob ich den Kopf, straffte die Schultern und ging an Jessica vorbei, ohne sie anzusehen.

Ihre Stimme drang trotzdem an mein Ohr. „Na, guckt mal, da kommt ja das Kindergartenkind, das sich als Künstlerin sieht. Hast du auch wieder in den Ferien ein paar neue Kritzelbilder gemalt?“

Sonja zischte leise und ich spürte, wie Marlene sich anspannte. Ich wollte etwas sagen, etwas Kontern, doch ich brachte keinen Ton heraus.

Aber zu meiner Überraschung war es diesmal Marlene, die stehen blieb, sich umdrehte und Jessica mit fester Stimme entgegnete: „Wenigstens macht sie etwas, worin sie gut ist. Was kannst du eigentlich, außer dämlich grinsen?“

Ein Moment der Stille folgte, bevor Jessica spöttisch lachte. Doch dieses Mal klang ihr Lachen weniger sicher, beinahe gezwungen.

Sonja grinste Marlene an und zog mich weiter. „Lass sie. Sie ist es nicht wert.“

Und während wir das Gebäude betraten, spürte ich ein winziges bisschen Hoffnung in mir aufkeimen. Vielleicht würde es dieses Jahr doch nicht ganz so schlimm werden, wie ich befürchtete. Doch damit sollte ich leider total falsch liegen.


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