Es war der dritte Abend unseres ersten gemeinsamen Urlaubs. Wir saßen am Strand, aßen Chips, tranken Apfelschorle und die Wellen der Ostsee rauschten im Hintergrund.
Marlene drehte die leere Flasche gedankenverloren vor sich hin und ich sah ihr verträumt dabei zu.
“Was haltet ihr von Wahrheit oder Pflicht”, fragte Sonja begeistert und schnappte sich Marlenes Flasche.
„Okay“, sagte Daniel und warf sich demonstrativ zurück. „Wir spielen klassisch: Wahrheit oder Pflicht. Kein Ausweichen. Kein doppeltes Fragen. Und wer kneift, springt in den See.“
„Ohne Badehose?“, fragte Sonja gespielt empört.
„Mit Klamotten, versteht sich“, murmelte Marlene, während sie weiterhin gedankenverloren nun eine Haarsträhne um den Finger drehte.
“Ich bin dabei”, rief Flo und auch Yannik war von dem Vorschlag angetan.
Und ich? Ich hatte gehofft, es würde einfach nur lustig werden. Wie sonst immer, wenn wir zusammen unsere Zeit verbrachten.
Aber irgendwas in der Luft fühlte sich anders an. Geladener.
Sonja begann und das Glas drehte sich. Erst zaghaft, dann schneller. Es blieb zwischen Flo und Marlene stehen, zeigte aber eindeutig auf Flo.
„Na los“, grinste Yannik. „Wahrheit oder Pflicht?“
Flo zuckte mit den Schultern. „Wahrheit.“
“Darf ich?”, fragte Marlene leise und als wir alle nickten, wurde ihr Blick ernst. „Was war der eigentliche Grund, warum du damals mit mir Schluss gemacht hast?“
Ein Windstoß zog über den Sand. Plötzlich war es still. Selbst Daniel räusperte sich nicht.
Flo sah zu Marlene. Dann auf das Meer. „Weil ich nicht mehr zwischen euch stehen wollte“, sagte er kaum hörbar. „Weil ich nicht wusste, wie ich meiner Schwester beistehen und gleichzeitig jemanden lieben soll, der zu der anderen Seite gehört.“
Ich schluckte und Marlene schwieg.
„Und heute?“, fragte sie nach einer kurzen Pause. Ihre Stimme war ruhig. Zitternd, leise, aber klar.
„Heute weiß ich, dass du nie auf der anderen Seite standest. Sondern zwischen zwei Welten. So wie fast alle von uns.“
Ich sah, wie sie leicht nickte. Nicht zustimmend, sondern als Zeichen, dass sie es gehört hatte. Aber ihre Augen sagten etwas anderes.
Um die aufkommende Stille zu unterbinden, drehte Daniel die Flasche weiter. Diesmal blieb sie bei mir stehen..
„Wahrheit oder Pflicht, Jasi?“, fragte Daniel. Seine Stimme klang ungewohnt angespannt.
„Wahrheit“, antwortete ich ohne zu zögern.
„Wenn Jessica heute vor dir stünde, was würdest du ihr sagen?“
Mein Herz klopfte. Ich spürte alle Blicke. Und plötzlich war wieder alles da. Die Pausen. Die Lacher. Die Intrigen. Die Sprüche. Das Gefühl, kleiner zu sein als der eigene Schatten.
Ich holte tief Luft. Sah zu Sonja. Dann zu Marlene. Und schließlich zu Yannik.
„Ich würde nichts sagen“, sagte ich. „Ich würde einfach weitergehen. Weil ich ihr nichts mehr geben will, nicht mal meine Worte.“
Sonja nickte leise. Und ich sah, wie sie blinzelte, obwohl sie es sonst nicht tat.
„Das ist Stärke“, sagte Yannik leise. „Nicht alles zu sagen, sondern das Richtige zu lassen.“
Nun drehte Yannik und die Flasche zeigte auf Sonja.
“Wahrheit, bevor ich wirklich noch nackt ins Meer springen muss“, sagte sie schnell, fast trotzig.
„Okay. Wenn wir schon einmal dabei sind: Was hast du damals wirklich von Jasis Rückzug gehalten, als sie so fertig war.“
Sonja erstarrte. Ich auch. Nicht, weil ich es nicht wusste. Sondern, weil sie es bisher nur mir unter vier Augen gesagt hatte..
Sonja sah mich an. Lange. Und dann: „Ich war wütend. Regelrecht sauer. Ich hab dich verflucht. Jeden beschissenen Abend. Weil ich dachte, du hast uns im Stich gelassen. Ich hatte dich damals genauso gebraucht, als das mit …“
Sonja verstummte und sah zu Daniel. Seine Lippen zuckten, dann senkte er den Blick. Sonja nahm seine Hand und verkreuzte ihre Finger mit seinen. Dann legte sie beide auf Daniels Schoß. Anschließend sprach sie gedämpft weiter: „Und dann hab ich dich verstanden. Als ich selbst gemerkt habe, wie schwer es ist, in einem Sturm zu stehen, wenn man selbst kaum stehen kann.“
“Auch ich wollte nie wegsehen“, fügte Marlene kaum hörbar hinzu. „Ich wusste einfach nicht mehr, was Wahrheit und was Lüge ist und ….“ Auch sie stoppte und als ich aufsah, entdeckte ich, dass Marlenes Augen glänzten. Genauso wie meine und die von Flo, Daniel und Sonja.
Die Stille danach war keine peinliche. Sondern eine, die uns zeigte, dass wir als Clique schon einiges gemeinsam durchgestanden hatten. Was uns auseinander, aber am Ende auch zusammengeführt hat.
Irgendwann unterbrach Yannik diese Stille, indem er die Flasche weiterdrehte, aber die Fragen wurden nicht vorsichtiger. Sie wurden ehrlicher. Tiefer.
Wir lachten trotzdem. Über Daniels missglückten Tanz auf einem Handtuch, über Flos Gesangseinlage und Sonjas Versuch, Daniel einen Kuss zu geben, ohne zu wissen, ob sie ihm oder jemanden anderen einen Kuss verpasst.
Aber irgendwo zwischen all dem albernen Kichern und dem Prickeln auf der Haut wusste ich:
Heute hat uns das Spiel nicht nur entlarvt. Es hat uns ein weiteres Stück näher zusammengerückt. Nicht alles war leicht. Noch immer war nicht alles geheilt. Aber alles war echt. Und das ist manchmal alles, was zählt.
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