Wenn Anderssein weh tut

Ich heiße Lio und bin sechs Jahre alt. Meine Eltern sind sehr streng. Sie wollen, dass meine drei Schwestern und ich brav sind – ruhig, unauffällig und gehorsam. So, wie sie sich ihre Traumkinder vorgestellt haben. Aber ich kann das nicht. Egal, was ich tue, es ist falsch. Ich kann ihnen einfach nicht gerecht werden.

In mir brennt immer ein Feuer. Ich will rennen, lachen, schreien und eigene Dinge ausprobieren. Ich will frei sein. Doch jedes Mal, wenn ich widerspreche, werden die Gesichter von Mama und Papa grimmig. Dann fühle ich mich klein. So, als würde etwas in mir zerbrechen.

Manchmal wünsche ich mir, sie könnten in mein Herz schauen und sehen, dass ich nicht böse bin. Ich will nicht anstrengend sein. Ich will einfach nur ich selbst sein dürfen. Wenn Mama mich dann in den Arm nehmen würde, auch wenn ich gerade laut war, dann wäre ich glücklich. Ich sehne mich so sehr danach, dass jemand sagt: „Lio, du bist gut, so wie du bist.“ Aber dieser Satz kommt nie. Stattdessen werde ich ausgeschimpft. Dann glaube ich, dass ich wirklich falsch bin.

Nur mein Kuschelhase macht es leichter. Ihm erzähle ich alles – meine Träume, meine Wut, meine Angst. Er sagt nichts, aber manchmal stelle ich mir vor, wie er flüstert: „Ich mag dich. Genau so.“

Doch überall ecke ich an. In der Schule soll ich stillsitzen. Wenn ich eine Frage habe und dazwischenrufe, schütteln die Lehrer den Kopf: „Lio, warum kannst du nicht wie die anderen sein?“ Und die Kinder starren mich an, als wäre ich komisch.

Auf dem Spielplatz ist es ähnlich. Erst finden die Kinder meine Ideen spannend. Doch wenn ich zu laut werde oder bestimme, wie wir spielen, wenden sie sich ab: „Lio will immer nur seinen Kopf durchsetzen.“ Und dann bleibe ich allein zurück – mit meinem Hasen im Arm.

Ich versuche oft, mich zu ändern. Morgens nehme ich mir vor: „Heute bin ich brav. Heute bin ich ruhig. Heute ärgert sich keiner über mich.“ Am Anfang klappt es. Ich sitze still, tue so, als wäre mein Feuer verschwunden. Aber nach einer Weile kribbelt es in meinem Bauch, meine Gedanken werden lauter, und irgendwann rutscht mir doch ein Wort, ein Lachen, ein „Nein!“ heraus. Dann sehe ich die enttäuschten Blicke. Genervt. Abweisend. Und ich fühle mich wie ein Fehler, den man am liebsten wegradieren würde.

Manchmal denke ich: Vielleicht kann man mich wirklich nicht lieben. Vielleicht bin ich einfach zu viel. Aber gleichzeitig spüre ich, dass ich nicht anders kann. Mein Feuer gehört zu mir. Es brennt so stark, dass ich es nicht löschen kann.

Und genau das ist das Schwerste: Ich will dazugehören. Ich will gemocht werden. Ich will, dass jemand sagt: „Lio, du bist genau richtig.“ Aber je mehr ich versuche, es zu beweisen, desto mehr stoße ich alle weg.

Abends frage ich meinen Hasen: „Warum bin ich so? Warum kann ich nicht so sein, wie alle es wollen?“ Und in meiner Fantasie antwortet er: „Weil du Lio bist. Und weil dein Feuer wichtig ist.“

Ich wünsche mir so sehr, dass jemand eines Tages genau das zu mir sagt. Doch bis dahin halte ich meinen Hasen fest. Er ist der Einzige, der bleibt. Der Einzige, der mich so mag, wie ich bin.

Gesprächsimpulse für Eltern, Erzieher und Pädagogen

  1. „Gibt es etwas, das du dir von anderen wünschst, wenn du dich ausgeschlossen oder unverstanden fühlst?“ 👉 Ermutigen Sie die Kinder, ihre Wünsche klar zu äußern – und zeigen Sie, dass solche Wünsche wichtig sind und gehört werden dürfen.
  2. „Hast du dich schon einmal so gefühlt wie Lio – dass du anders bist als die anderen?“ 👉 Lassen Sie die Kinder frei erzählen. Ermutigen Sie sie, Situationen zu benennen (z. B. in der Schule, auf dem Spielplatz, zu Hause).
  3. „Wie fühlt es sich für dich an, wenn jemand enttäuscht von dir ist oder dich nicht versteht?“ 👉 Kinder können Gefühle wie Traurigkeit, Wut oder Einsamkeit benennen. Greifen Sie diese auf und zeigen Sie Verständnis: „Das ist ein wichtiges Gefühl, und es ist okay, so zu fühlen.“
  4. „Was machst du, wenn du traurig oder wütend bist – hast du auch etwas oder jemanden, der dir dann Halt gibt, so wie Lio seinen Hasen hat?“ 👉 Ermutigen Sie die Kinder, eigene „Helfer“ oder Strategien zu nennen (z. B. Kuscheltier, Musik hören, reden, zurückziehen).
  5. „Glaubst du, dass ‚anders sein‘ auch etwas Gutes sein kann? Warum?”  👉 Lenken Sie die Antworten in Richtung Vielfalt und Stärken: „Was können Menschen, die anders sind, vielleicht besonders gut?“
  6. „Was würdest du Lio sagen, wenn du ihn triffst?“ 👉 Diese Frage hilft, Empathie aufzubauen. Kinder können Zuspruch oder eigene Erfahrungen in Worte fassen.
  7. „Was glaubst du: Was braucht Lio am meisten von den Menschen um ihn herum?“ 👉 Leiten Sie das Gespräch auf Themen wie Verständnis, Geduld, Freundschaft, Liebe. So spüren die Kinder, wie wichtig diese Werte im Miteinander sind.

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